Holzschnitt 1510
    
Nikolaus von Flüe
Bruder Klaus  
  
 
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   Lilienvision von Bruder Klaus
  
Lilienvision   überliefert von Heinrich Wölflin
  
   Pferd frisst eine Lilie«Als er einmal das Vieh versorgen wollte und auf die Wiese kam, setzte er sich auf die Erde und begann in seiner Weise aus innerstem Herzen zu beten und sich in die himmlischen Betrachtungen zu vertiefen. Plötzlich sah er aus seinem Mund eine weisse Lilie mit wunderbarem Wohlgeruch hervorspriessen, die bald bis zum Himmel reichte. Dann ging sein Vieh an ihm vorüber, aus dessen Ertrag er für die Familie sorgte. Er senkte eine Weile seinen Blick. Sein Auge blieb fest auf ein Pferd gerichtet, das schöner war als alle anderen. Jetzt sah er, wie sich die Lilie aus seinem Munde über diesem Pferd niederbeugte und von dem Tier im Vorübergehen verschlungen wurde. Durch diese Vision wurde er belehrt. Er erkannte, dass der im Himmel zu erwerbende Schatz keineswegs denen zufällt, welche den Gütern des Glücks nachjagen, und weiter, dass er wie der Samen des Gotteswortes unter den Dornen erstickt, wenn sich die Sorgen und Interessen des irdischen Lebens damit vermischen.» (Heinrich Wölflin, Biographie, §13, Quelle 072)
  
Diese wunderschöne Imagination erscheint uns recht einfach und klar verständlich. Das Geschehen können wir gut vor unseren inneren Augen abspielen lassen wie einen Film. Zwei Symbole erscheinen darin: die weisse Lilie und das schöne Pferd. Was bedeuten sie?
  
OsterlilieLilie
  
Von grossem Interesse dürfte hier die sprachliche Entwicklung sein, kennen wir doch von diesem Blumennamen zumindest noch drei ältere Varianten: «ilje», «ilge» und «gilge». «Lilie» ist darum etymologisch verwandt mit dem Eigenschaftswort «heilig». Dies wird uns verständlich, wenn wir eine andere Stelle der Bruder-Klausen-Literatur vergleichen – die dem Eremiten zugeschriebenen so genannten «Reimsprüche», welche Sebastian Rhaetus, Ulrich Witwyler (Quelle 262) und Petrus Kanisius überliefern. Hier finden wir das Wort «gilgenschein», das «Heiligenschein» bedeutet.
  
In der Lehre von Carl Gustav Jung nach dem entsprechenden Archetypen gesucht würde die Lilie Reinheit, Unversehrtheit, Unschuld symbolisieren. Im Kontext der Imagination des Einsiedlers im Ranft symbolisiert die Lilie schlicht und einfach das Heilige an sich. Wenn Gott in die Seele hinein scheint, dann kommt das Heilige darin zur Entfaltung.
  
Lilum candidum
Bei der weissen Lilie in der Vision kann es sich nur um eine Art handeln, die Lilium candidum, die ursprünglich nur in Südwestasien zu Hause war, dann aber durch die Römer im ganzen Imperium verbreitet wurde. Allerdings gibt es gleichsam eine einheimische wildwachsende Miniaturausgabe davon, die 20 bis 40 cm hohe Weisse Trichterlilie mit ebenfalls traubenartigem Blütenstand. Die Lilium candidum bekam ausserdem noch den Namen «Marienlilie». Sie ist bisweilen das ikonographische Attribut, das der Engel Gabriel bei der Verkündigung in der Hand hält. Es werden einige Heilige mit dieser Blume dargestellt. Ein biblischer Prototyp der Reinheit ist Susanna im Buch Daniel (Kapitel 13). Die hebräische Version des Namens, «Shushan», bedeutet sodann wörtlich auch nicht nichts anderes als eben «Lilie». – Mit ihren weissen Kronblättern hat diese Lilie eine 3- bzw. 6-strahlige radialsymmetrische Struktur; Staubbeutel und Stempel sind goldgelb. Die 6 Kronblätter sind in 2 Reihen zu je 3 im Winkel von 120° angeordnet. Diese Symmetrie hat eine grosse Ähnlichkeit mit dem farbigen Meditationsbild und der Radskizze im Pilgertraktat (siehe: Das Sachsler Meditationstuch). Bei der vorderen Reihe treten die Kronblätter anders in Erscheinung als in der hinteren Reihe – im Winkel von 60° versetzt –, welche durch die vordere teilweise verdeckt wird. Das Meditationsbild stellt dem Christen das vor Augen, was ihm als heilig gelten soll. Das Heilige hat dort die symbolische Struktur einer Lilie.
  
Pferd
  
Das wilde Pferd symbolisiert in der Jungschen Schule archetypisch die unkontrollierbaren Triebe, die aus dem Unbewussten hervorbrechen. Nun, in der Lilienvision von Bruder Klaus handelt es sich um ein gezähmtes Haustier. Aber auch zahme Pferde können «durchbrennen», wenn ein heftiger Schrecken in sie fährt. Ob es ein weisser, junger und verspielter Hengst gewesen war, wissen wir nicht. Schneeweiss wie das pferdeähnliche Fabel- und Wappentier, das Einhorn (Unicorn), das wiederum auch die Unschuld symbolisiert? Jedenfalls war es ein schönes Tier, ein lustvoller Anblick, besonders für den Besitzer.
  
Herz und Mund
  
«Wes’ das Herz voll, des’ geht der Mund über». Diese volkstümliche Redensart trifft hier den Sinn der gleichnisartigen Erzählung. Viele gottesfürchtige Menschen kennen das leidige Thema, wenn sie beten möchten und dabei abgelenkt werden, so dass ihnen ihre Zerstreut schliesslich auch noch beschwerlich wird. Die Lilien auf dem Feld kennen keine Sorgen des Alltags (vgl. Mt 6,28). Aber geht es hier einfach nur um die nötigen Alltagssorgen? Wir könnten ja ja sagen: Alles hat seine Zeit, das Beten und das Arbeiten, für den Alltagsmenschen genauso wie für den Mönch. Oder geht es einfach nur um die Hierarchie der Werte? Die Gottesliebe sollte dabei zuoberst stehen, ihr sollte nichts vorgezogen werden. Zumindest Bruder Klaus selbst empfindet es so. Sein Herz betet und der Hauch des Heiligen steigt wie Weihrauch zum Himmel empor (Psalm 141,2). Das Heilige in seinem Herzen wächst und strebt dem Himmel entgegen, wie es nicht schöner als mit dem Bild der Lilie gezeigt werden kann. Doch dann neigt sich seine ganze Aufmerksamkeit der Erde zu, sein Besitz, das Vieh und darin das schöne Pferd gefallen ihm. Wie sehr? Zu sehr? Das ist eine Ermessensfrage, könnten wir einfachen Menschen meinen. Für Bruder Klaus aber war es die Existenzfrage: Wie kann er das Leben als Bauer und Familienvater in eins bringen mit seiner starken Neigung zur Gottsuche?
  
Einsamkeit und Gottesnähe
  
Die Einsiedler in der ägyptischen Thebais (Gegend um Theben) suchten die Einsamkeit der Wüste, um ihre Zeit möglichst ungestört im Gebet und in der Betrachtung des Heiligen zu verbringen. Ungestört? Menschen von Fleisch und Blut, und wenn sie noch so heiligmässig sind, werden hin und wieder durch irdische Begierden abgelenkt, wie es uns die berühmten Versuchungen des heiligen Antonius zeigen (z. B. im Isenheimer Altarbild von Matthias Grünewald, heute im Unterlindenmuseum in Colmar). Bereits in seiner Jungendzeit suchte Bruder Klaus oft einsame Orte auf, wie seine Freunde Erny Rohrer und Erny Anderhalden zu berichten wissen (Sachlser Kirchenbuch, Quelle 53).
  
«einigkeyt», wie es im Sachlser Kirchenbuch heisst, bedeutet schlicht und einfach «Einsamkeit», «Alleinsein», «Abgeschiedenheit», hat also keinen speziellen Bezug zur Geschichte der Mystik in der Bedeutung der «Vereinigung» mit Gott. Und «einig wesen» (Aussage Erny Anderhaldens im Sachsler Kirchenbuch) einfach so mit «einig Wesen» zu übersetzen gibt nicht allzu viel Sinn, schiesst etwas am Ziel vorbei. «wesen» steht fern der Bedeutung der Philosophen und dem, was wir heute unter Lebewesen verstehen. Es ist ganz einfach eine grammatikalische Form von «sein», wie es zusammengesetzt noch zu finden ist in «gewesen» und «anwesend» usw. Im älteren Deutsch ist es ein eigenständiges Substantiv und bedeutet: «Lebensart». «einig» (ältere Variante «einec») bedeutet nichts Anderes als «all-einig», also: «allein», «einsam». Die Kombination weist schliesslich einfach nur auf die Lebensweise des Eremiten hin, das Einsiedlerleben an sich, und niemals: Vereinigung, Verschmelzung mit dem Wesen Gottes zu einem einzigen Wesen, wie es der durch die pantheistischen Neuplatoniker Plotin, Porphyrius und Andere beeinflusste Zweig der Mystik glaubt. Selbst Meister Eckhart (Dominikaner, Vertreter der «Deutschen Mystik») hatte nie derartige neuplatonische Ideen vertreten, wie oft behauptet wurde. Wenn er von der Gottesbegegnung als «Gottesgeburt» sprach, vertrat er diese Ansicht: «Wenn die Seele der Zeit und des Raumes ledig ist, so sendet der Vater seinen Sohn in die Seele». (Udo Kern, «Gottes Sein ist mein Leben» – Philosophische Brocken bei Meister Eckhart, Berlin 2003, 248; ferner: Alois M. Haas, Meister Eckharts Auffassung von Zeit und Ewigkeit, Freib. Zeitschr. f. Phil. u. Theol., Band 27, Heft 3, Freib. Schw., 1980, 341 und 350). Meister Eckkharts Seinslehre basiert auf der Philosophie des Aristoteles: Der Mensch muss am Ende der Erdenzeit zum reinen Wesen werden, das bedeutet: Er muss alles «Beigefügte» (symbebeka, Akzidentien), Zeit und Raum, abstreifen, sich allen Zähl- und Messbaren endledigen, ledig werden.
  
Das Vorbild – Hirte und Einsiedler
  
Bei den Innerschweizer Bauern und Hirten, vom Mittelalter an bis heute, haben zwei Heilige einen sehr hohen Rang. Beide waren Einsiedler: Antonius der Ägypter und Wendelin im Saarland (St. Wendel). Nun, Wendelin war eine Zeit lang auch Pilger, darauf Einsiedler, Hirte und wieder Einsiedler, bevor er wegen seines herausragenden Rufes als Abt in das nahe Kloster Tholey berufen wurde, wo er 1015 starb (historisch nicht gesichert). Zwischen dem Bauern Niklaus von Flüe und dem Hirten Wendelin gab es im weiteren Verlauf viel Gemeinsames aber auch einen wichtigen Unterschied: Das Vieh gehörte damals nicht Wendelin. Der Flüelibauer hatte eine engere Beziehung zu dem, was er besass, und die ihn seiner Meinung nach gerade von seinem Dienst an Gott zu sehr ablenkte. Doch sonst können wir mit Fug und Recht behaupten, dass Wendelin eher ein Vorbild für Bruder Klaus war als irgendwelche wenig bekannte Eremiten und Gottesfreunde früherer Zeiten, im Engelbergertal, im Entlebuch (Wittenbach, seit 1480 Heiligkreuz), im Jura oder im Elsass. Wollte Bruder Klaus 1467 unter anderem auch ins Saarland zum Grab des Schutzpatrons der Bauern und Hirten pilgern? Das wäre durchaus denkbar.
  
Bild oben: Im Vorübergehen frisst das schöne Pferd die Lilie, welche aus dem Mund von Bruder Klaus himmelwärts wächst und sich wieder zur Erde hin neigt. – Ausschnitt aus einem Wandbild in der oberen Ranftkapelle (18. Jh.)
  
Bild Mitte: Osterlilie (Lilium longiflorum, aus Ostasien stammend)
  
Bild unten: Weisse Lilie, auch «Marienlilie» genannt (Lilium candidum, ursprünglich in Südwestasien beheimatet, auch in Palästina) – Tafel einer botanischen Sammlung: Curtis Botanical Magazine, US Department of Agriculture
  
  
Mehr über die Struktur der Radskizze – Das «Rad» und sein verborgener Sinn
  
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